Der seit 2004 für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie praktizierende Facharzt Dr. med. Wolfgang Döhner verläßt leider Bad Liebenzell und übergibt seine Praxis zum 01. April 2021 an Dr. med. Dietmar Pooch, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Sozialmedizin. Döhner hat zum Thema "Corona und unsere Psyche" kürzlich einen interessanten Vortrag gehalten, welchen wir sehr gerne veröffentlichen möchten, zumal Präsenzvorträge aktuell  kaum möglich sind.


Corona und unsere Psyche

Dr. Wolfgang Döhner, Ev. Erwachsenenbildung Schwarzwald online, 08.03.2021

Corona und unsere Psyche – so lautet das Thema, über das ich Ihnen im dem heutigen Online-Forum berichten soll. Ich weiß nicht, was Ihnen bei diesem Thema spontan für Gedanken kommen, wie es Ihnen psychisch mit dem Stichwort „Corona“ geht. Vielleicht ja ähnlich wie mir: Corona-Virus, Corona-Krise, Corona-Zahlen, Corona-Hotspots, Corona-Tests, Corona-Kritiker, Corona-Lockdown, Corona-Pandemie - den Begriff hat die Gesellschaft für deutsche Sprache 2020 sogar zum Wort des Jahres gekürt. Über sämtliche Medien werden wir tagtäglich eingedeckt mit neuen Erkenntnissen, Meinungen, Verordnungen und Empfehlungen zu diesem Thema, aber auch mit vielen Halbwahrheiten und nicht selten schlichtem Unsinn. Corona, Corona - man kann es ja schon fast nicht mehr hören!
Nicht, dass wir das Thema nicht ernst nehmen würden - im Gegenteil: Dass dieses weltweit grassierende Virus in den inneren Organen infizierter Menschen fatale Schäden anrichten kann, und dass diese Schäden über die Auswirkungen einer herkömmlichen Grippewelle weit hinausgehen, wird angesichts der vorliegenden Daten heute kaum noch jemand ernsthaft bestreiten - von ein paar Verschwörungstheoretikern einmal abgesehen.
Es ist auch nicht so, dass wir zu wenig Informationen zu dem Thema hätten - im Gegenteil: wir haben eher zu viel davon. Manche sprechen in Analogie zu dem Begriff „Corona-Pandemie“ schon von einer „Corona-Infodemie. Unser Problem ist eher: Was machen wir mit dieser Flut von Informationen, und andersherum: machen diese Informationen mit uns?
Nach dem bisherigen Verlauf dieser Pandemie ist eines auf jeden Fall deutlich geworden: Bei der Corona-Pandemie und dem Versuch ihrer bestmöglichen Bewältigung sind wir alle mit erheblichen Belastungen konfrontiert und mit komplexen Fragen, auf die es großenteils keine einfachen Antworten gibt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat es bei ihrer Regierungserklärung im Oktober so formuliert: „Die Pandemie ist die größte Herausforderung für unsere Gesellschaft seit dem zweiten Weltkrieg. (…) Sie ist eine medizinische, eine ökonomische, eine soziale, eine politische und eine psychische Bewährungsprobe.“
Da ich kein Virologe bin und kein Epidemiologe, auch kein Wirtschaftswissenschafter oder Sozialpolitiker, erwarten sie von mir hoffentlich keine neuen Erkenntnisse aus diesen Bereichen. Ich werde mich beschränken auf diejenigen Probleme im Zusammenhang mit Corona, mit denen ich als Psychiater in vielen Gesprächen mit meinen Patienten selbst konfrontiert bin: den psychischen Auswirkungen der Pandemie. Diese psychischen Belastungen haben meinem Eindruck nach zum einen in den letzten Monaten spürbar zugenommen, und zum anderen sind wir - im Unterschied zu den körperlichen Schäden durch eine Infektion dem Coronavirus - von ihnen praktisch alle mehr oder weniger betroffen.

Mein Vortrag gliedert sich ganz grob in zwei Teile:
Teil 1: Was macht Corona mit unserer Psyche? Welchen psychischen Belastungen sind wir im Zusammenhang mit der aktuellen Pandemie ausgesetzt?
Teil 2: Wie können wir mit diesen psychischen Belastungen am besten umgehen?

Beginnen wir also mit
Frage 1: Welchen psychischen Belastungen sind wir durch Corona ausgesetzt, und wie reagiert unsere Psyche auf diese Belastungen?
Bei näherer Betrachtung dieser Frage wird rasch deutlich, dass wir es bei den corona-bedingten psychischen Belastungen im Grunde mit zwei sich überschneidenden Problemkreisen zu tun haben: Einerseits mit direkten Belastungen durch die Pandemie selbst (z.B. Angst vor einer Erkrankung), und andererseits mit indirekten Belastungen – man könnte auch sagen Kollateralschäden - durch Maßnahmen zur Bewältigung eben dieser Pandemie (z.B. Einschränkung von sozialen Kontakten).
Beide Problemkreise stellen schon für sich allein eine gewisse psychische Belastung dar, und erst recht natürlich in ihrer Summe - für den einen vielleicht mehr, für den anderen weniger, aber kaum jemanden lässt die Pandemie gänzlich unberührt. Das häufigste psychische Symptom, unter dem Menschen in diesem Zusammenhang leiden, ist Angst. Das entspricht nicht nur meinem persönlichen Eindruck als niedergelassener Psychiater, es ist inzwischen auch durch zahlreiche Studien belegt: Die chinesische Stadt Wuhan, wo die Pandemie ja allem Anschein nach ihren Ausgang genommen hat, hat bereits im Februar ein Notfalltelefon für besorgte Bürger eingerichtet und die Anrufanlässe statistisch ausgewertet: In den allermeisten Fällen handelte sich dabei Angst; „Corona-Angst“ ist inzwischen zu einem gängigen Begriff geworden. Krankmeldungen wegen Angst und Angststörungen haben deutlich zugenommen, insbesondere in den Lockdown-Phasen.
Jetzt werden Sie vielleicht fragen: Angst und Angststörung – ist das nicht das Gleiche? Ist nicht jede Angst eine psychische Störung? Nein, ist sie nicht. Angst ist zunächst einmal eine gesunde und hilfreiche psychische Reaktion, vergleichbar einer Alarmanlage: Sie warnt uns vor einer drohenden Gefahr, schneller als unser Verstand das kann, damit wir so schnell wie möglich auf die Bedrohung reagieren können. Menschen, die vor nichts Angst empfinden - und die gibt es! – sind nicht etwa zu beneiden, sondern in ihrem Sozialverhalten schwer gestört; man nennt sie Psychopathen. Ein gewisses Maß an Angst vor dem Corona-Virus im Sinne von vorsichtigem Respekt ist also durchaus angebracht: Sie bewahrt uns vor Leichtsinn und hilft uns dabei, nicht nachlässig zu werden beim konsequenten Einhalten der AHA-Regel: Abstand halten, Hygieneregeln beachten, Alltagsmaske tragen!

Etwas anderes ist es, wenn Angst nicht mehr bewältigt werden kann, zu einem Dauerzustand wird und dadurch ihre hilfreiche Funktion verliert; dann sprechen wir von einer Angststörung. Das kann vor allem dann passieren, wenn die angstauslösende Gefahr sehr lange anhält, oder wenn sie nicht konkret greifbar ist und sich dadurch einer aktiven Bewältigung entzieht.

Im Falle der Corona-Pandemie ist fatalerweise beides gleichzeitig der Fall: Das Corona-Virus ist ein ebenso gefährlicher wie unsichtbarer Gegner, und ein rasches Ende der durch ihn ausgelösten Gefahr ist noch längst nicht nicht in Sicht. Von daher ist unschwer nachzuvollziehen, dass Corona bei vielen Menschen Angststörungen auslöst bzw. in dieser Richtung ggf. bestehende Vorbelastungen verstärkt.
Unbehandelt neigen Angststörungen dazu, sich in der Psyche betroffener Menschen immer weiter auszubreiten, vergleichbar einer Krebserkrankung: Die ursprünglich z.B. auf die Gefahr einer Infektion begrenzte Angst befällt Schritt für Schritt immer mehr Lebensbereiche, bis zuletzt im schlimmsten Fall das ganze Leben nur noch aus Angst besteht. Von dort ist es dann oft nicht mehr weit zu Resignation, Burnout und Depression bis hin zu Suizidideen.
Manche von Corona-Angst betroffener Patienten versuchen, der angstauslösenden Gefahr durch extrem gesteigerte Vorsichtsmaßnahmen zu begegnen: ständiges Händewaschen, mehrmals tägliches Wechseln der Kleidung oder unablässiges Desinfizieren der gesamten Wohnung. Nun ist eine aktive Auseinandersetzung mit Ängsten grundsätzlich zu begrüßen; derart übertriebene Maßnahmen sind aber nicht nur sinnlos; auf Dauer können sie von einem scheinbaren Lösungsversuch selbst zu einem Problem werden und sich zu einer zusätzlichen behandlungsbedürftigen Störung auswachsen, in diesem Fall einer Zwangserkrankung.
Noch häufiger versuchen Angstpatienten, ihre quälenden Ängste durch Alkohol, Medikamente oder andere psychoaktive Substanzen zu unterdrücken - auch hier oft mit dem Ergebnis, dass aus dem vermeintlichen Problemlöser ein weiteres Problem erwächst.
Zusätzlich verschärft wird die Situation jetzt noch durch den bereits angesprochenen zweiten Problemkreis: durch die Tatsache nämlich, dass viele behördlich verordnete Maßnahmen, die nach Überzeugung der verantwortlichen Politiker und der sie beratenden Experten geeignet sind, die exponentielle Verbreitung des Virus zu verlangsamen und dadurch einen Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems zu verhindern, erhebliche Kollateralschäden verursachen, welche ihrerseits bei vielen Betroffenen Angst auslösen. Alle Altersgruppen sind davon betroffen:

Bei den älteren Menschen verschärft die coronabedingte Einschränkung sozialer Kontaktmöglichkeiten die Gefahr von Vereinsamung. Und Einsamkeit ist nicht bloß eine Beeinträchtigung psychischen Wohlbefindens, sondern einer der gravierendsten gesundheitsgefährdenden und lebensverkürzenden Faktoren überhaupt: „Einsamkeit ist das neue Rauchen“ - an diesem Satz ist leider etwas dran.

Kindern und Jugendlichen droht durch monatelang reduzierten oder ganz ausbleibenden Schulunterricht eine Verminderung ihrer Bildungschancen. Online-Ersatzangebote, so sie denn zur Verfügung stehen, haben sich für Studenten als hilfreich erwiesen, teilweise auch noch für Schüler, sofern die die bei der Nutzung digitaler Medien zu Hause auf Unterstützung zählen können. Ohne individuelle pädagogische Begleitung führen sie aber bei den meisten Kindern, wie Studien inzwischen eindeutig belegen, vor allem zu einem vermehrten Konsum von Fernsehen und Computerspielen - mit unguten Folgen insbesondere für die lernschwächeren und von daher eigentlich besonders förderungsbedürftigen unter ihnen.
Und Menschen im werktätigen Alter geraten durch Firmenschließungen und Verlust des Arbeitsplatzes vielenorts in Existenzangst. Kommen dann noch beengte Wohnverhältnisse und familiäre Spannungen dazu, ist es manchmal nicht weit bis zu häuslicher Gewalt. Besonders gefährdet – auch das zeigen Studien – sind dann wiederum die Kinder.
Beispiele dieser Art fallen Ihnen selbst bestimmt noch viele ein. Der dabei ablaufende Mechanismus ist im Grunde immer der gleiche: In direktem und/oder indirekten Zusammenhang mit der Corona-Pandemie kommt es zu Stressbelastungen. Die meisten Menschen schaffen es, diese Belastungen irgendwie psychisch zu bewältigen. Wenn die Stressbelastungen aber besonders stark ausgeprägt sind und/oder auf eine vorbestehende psychische Schwachstelle treffen, können sie die individuelle Fähigkeit zur Stressbewältigung überfordern und zu akuten psychischen Störungen führen.

Wie ist das also mit unserer Fähigkeit zur Stressbewältigung? Ein Grundproblem dabei ist, dass wir Menschen von Natur aus ganz gut ausgestattet sind mit biologischen Mechanismen zur Bewältigung kurzfristiger Stresssituationen, weit weniger aber zum Umgang mit langfristig anhaltenden Belastungen. Mit akuten Notfallsituationen kommen auch manifest psychisch kranke Menschen oft erstaunlich gut klar: Ich entsinne mich an einen Bericht über die notfallmäßige Evakuierung eines in Brand geratenen psychiatrischen Krankenhauses - alles verlief zügig und geordnet, keiner der Patienten hat die Nerven verloren und niemand ist zu Schaden gekommen.
Anders sieht es aus bei langfristig anhaltenden Stressbelastungen, auch wenn sie objektiv vielleicht sogar weit weniger bedrohlich sind: damit tun sich auch gesunde Menschen deutlich schwerer. Es ist von daher zunächst einmal nicht erstaunlich, dass die Bereitschaft vieler Menschen, die zur Eindämmung der Corona-Pandemie verordneten Maßnahmen zu akzeptieren und an ihnen mitzuwirken, in letzter Zeit merklich nachgelassen hat. „Irgendwann muss doch auch mal gut sein! Das Schlimmste haben wir doch jetzt überstanden!“ - solche Sätze höre ich auch von intelligenten Menschen, die eigentlich nur einen Blick in die Tageszeitung werfen müssten, um eines Besseren belehrt zu werden.

Am deutlichsten wird die nachlassende Bereitschaft zur Mitwirkung an präventiven Maßnahmen durch den zunehmenden Anteil von Menschen, die in der Öffentlichkeit keinen Mund-Nasenschutz tragen. Teilweise passiert dass es wohl einfach aus Vergesslichkeit oder Nachlässigkeit. Die meisten Maskenverweigerer handeln allerdings aus Überzeugung. Eines ihrer Argumente lässt sich medizinisch nicht ganz vom Tisch wischen: Eine effektive Atemmaske, die über eine bloße Dekoration hinausgeht, erschwert unvermeidlich ein wenig das Atmen. Als jemand, der berufsbedingt selbst 8-10 Stunden täglich eine FFP-2-Maske trägt, kann ich das bestätigen. Dass aber schon der minimal erhöhte Atemwiderstand einer Alltagsmaske geeignet sein soll, selbst bei Menschen, die nicht unter einer vorbestehenden Lungenerkrankung leiden, Panikattacken, Erstickungsanfälle oder sonstige gefährliche Krankheiten auszulösen, wage ich einmal zu bezweifeln.
Auch das Verhalten mancher ärztlicher Kollegen, die Patienten auf Wunsch teilweise sehr leichtfertig, bisweilen angeblich sogar ohne entsprechende Untersuchung, Bescheinigungen zur Befreiung von der Maskenpflicht ausstellen, halte ich in diesem Zusammenhang für Besorgnis erregend - erst recht, wenn sie sich auch noch öffentlich zum Sprachrohr von Verschwörungstheoretikern machen und damit die Glaubwürdigkeit ärztlicher Experten in Misskredit bringen.
Nicht, dass es an den behördlich verordneten Maßnahmen nichts zu kritisieren gäbe, im Gegenteil: Viele dieser Maßnahmen sind inkonsequent, in sich widersprüchlich oder kommen zum falschen Zeitpunkt. Natürlich wurden dabei auch Fehler gemacht. Wie sollte es auch anders sein: Schließlich haben wir es, so Finanzminister Olaf Scholz, zu tun mit einer „globalen Pandemie, für die es bislang kein Drehbuch gibt“. Von daher ist ein kritisches Hinterfragen dieser Maßnahmen nicht nur legitim, sondern in einem demokratischen Staatswesen geradezu notwendig. Auch kreatives „Querdenken“ kann dabei hilfreich sein – solange Denken nicht mit bloßen Behaupten verwechselt wird.
Damit wären wir bei dem Stichwort „Coronakritiker“ - einem Thema mit vielen schillernden Facetten, gerade auch aus psychiatrischer Sicht. Dem zentralen Argument vieler Coronakritiker, dass die Behandlung einer Krankheit nicht mehr Schaden anrichten darf als die Krankheit selbst, kann man dabei zunächst einmal gar nicht widersprechen; bei diesem Satz handelt es sich um ein jahrhundertealtes Grundprinzip der Medizin. Nur, der Teufel steckt auch hier wie so oft im Detail: Wer genau leidet in welchem Ausmaß unter welcher Krankheit, und wer genau nimmt durch deren Behandlung in welchem Ausmaß welchen Schaden? Ein exemplarisches Beispiel für das moralische Dilemma, in das eine derartige Diskussion führen kann, war die Aussage eines namhaften Politikers, mit den aufwändigen Corona-Maßnahmen, deren Kosten ja zulasten der kommenden Generationen gingen, schützten wir vor allem das Leben alter Menschen, von denen manche ein paar Monate später ohnehin gestorben wären. Er hat für diese Aussage öffentlich viel Prügel bezogen - wie ich finde zurecht:

Auch wenn er es so nicht intendiert hat, läuft eine Relativierung der grundsätzlichen Schutzbedürftigkeit menschlichen Lebens Gefahr, in der öffentlichen Diskussion Begriffe wie „lebensunwertes Leben“ wieder hoffähig zu machen - Begriffe, die allein schon aufgrund ihrer fürchterlichen Geschichte in der Nazizeit ein für alle Mal indiskutabel bleiben sollten.
Einmal ganz abgesehen davon, dass Infektionen mit dem Coronavirus eben nicht nur bei multimorbiden alten, sondern zunehmend auch bei bislang gesunden jungen Menschen einen tödlichen Verlauf nehmen. Und dass bei einem ungebremsten exponentiellen Verlauf eben auch die Todesfälle junger Menschen exponentiell zunehmen würden. Dass diese Gefahr von vielen Menschen so nicht gesehen wird – „In meiner Familie ist bislang niemand krank, und in meinem Ort kenne ich bloß eine Hand voll …“ - liegt mutmaßlich auch daran, dass sich unser Gehirn exponentielles Wachstum letztlich nicht vorstellen kann. Ein konkretes Beispiel dazu: Sie kennen wahrscheinlich alle die Geschichte von dem Schachspieler, der sich vom König als Siegesspreis erbeten hat, der König möge ihm auf das erste Feld seines Schachbretts ein Reiskorn legen, auf das zweite zwei, auf das dritte vier, dann acht, und so weiter, auf jedes nachfolgende Feld die doppelte Anzahl. Wahrscheinlich wissen oder ahnen Sie, dass auf dem letzten, dem 64sten Feld des Schachbretts die Zahl der Reiskörner gar keinen Platz mehr hat. Wenn Sie in der Schule in Mathematik gut aufgepasst haben, können Sie korrekt angeben, dass hier 2 hoch 63 Reiskörner zusammenkommen - bloß das unserem Gehirn für diese Zahl immer noch jegliche Vorstellungskraft fehlt. Umgerechnet entspricht sie einer Menge von 461 168 601 842 Tonnen Weizen, das wären etwa 5555 Tonnen für jeden der 83 Millionen Bundesbürger.
Der besagte König war also naiv, als er dem Schachspieler leichtfertig die Erfüllung seines nur scheinbar so bescheidenen Wunsches zugesagt hat. Und wir wären naiv, wie Donald Trump zu glauben, dass ein sich exponentiell verbreitendes Virus irgendwann einfach mit dem Weiterverbreiten aufhört und verschwindet. Auch die in Großbritannien und Schweden anfangs verfolgte Strategie, dem Virus ein Stück weit freie Bahn zu lassen um eine sogenannte Herdenimmunität zu erreichen, hat sich inzwischen als Fehlschlag herausgestellt: Die Zahl der Todesfälle ist schlichtweg aus dem Ruder gelaufen.
Dabei hätte eigentlich schon der Begriff Herdenimmunität aufhorchen lassen müssen – der stammt nämlich aus der Tiermedizin. Wird z.B. eine Schafherde von einer Infektionskrankheit befallen, kann es ökonomisch sinnvoller sein, statt einer aufwändigen und teuren Behandlung aller Tiere lieber nichts zu tun und darauf zu vertrauen, dass die starken Tiere genügend Abwehrkräfte gegen den Krankheitserreger entwickeln, während man den Tod der schwächeren bewusst in Kauf nimmt. Auf den Menschen übertragen ist der Begriff schon von daher nicht frei von Zynismus.

In Sachen Corona ist Nichtstun jedenfalls keine Option – es sei denn, wir gehörten zu den Menschen, die ernsthaft davon überzeugt sind, dass es das Coronavirus gar nicht gibt! Dass es eine Erfindung irgendwelcher dunklen Mächte ist, die uns damit nur in Angst und Schrecken versetzen wollen, um die Weltherrschaft zu übernehmen und uns über Zwangsimpfungen Mikrochips einzuspritzen, die uns zu willenlosen Zombies machen. Die öffentliche Diskussion über behördlich verordnete Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat streckenweise längst die Ebene der Vernunft verlassen und ist ins Irrationale, teilweise sogar Wahnhafte abgerutscht. Aus psychiatrischer Sicht sind Verschwörungstheorien natürlich ein höchst interessantes Phänomen Wie kann man so etwas verstehen? Wie kommt es, dass in einer modernen Industriegesellschaft des 21. Jahrhunderts wissenschaftlich klar belegten Fakten von großen Teilen der Bevölkerung weniger Glauben geschenkt wird als so genannten „alternativen Fakten“, die bei näherer Betrachtung nichts anderes sind als frei erfundene Behauptungen?

Wie so oft haben wir es auch bei diesem Phänomen mit einer bunten Mischung aus psychischen, sozialen und politischen Motiven zu tun. Ein in psychischer Hinsicht zentraler Faktor ist dabei unser menschliches Grundbedürfnis nach möglichst einfachen Antworten auf komplexe Fragestellungen. Diese Tendenz beobachten wir auch in vielen anderen Situationen; nur ein Beispiel aus meinem ärztlichen Alltag: Obwohl sie eigentlich wissen, dass ihre Herz-Kreislauf-Erkrankung auf ein komplexes Wechselspiel mehrerer Faktoren zurückzuführen ist - (hoher Blutdruck, Cholesterin, Übergewicht, Bewegungsmangel usw. - setzen viele Betroffene ihre Hoffnung einseitig auf die eine Tablette, die das Problem lösen soll.
Die mit Abstand einfachste Lösung eines komplizierten Problems besteht darin, dass es das Problem überhaupt nicht gibt. Auch diesem Mechanismus der Leugnung begegnen wir nicht nur bei Corona-Kritikern. Als Arzt bin ich bisweilen mit Psychiatrie-Gegnern konfrontiert, die davon überzeugt sind, psychische Krankheiten gebe es überhaupt nicht: Die Alzheimer-Krankheit sei eine Erfindung der Pharmaindustrie. Die Diagnose Schizophrenie diene nur dazu, lästige Gesellschaftskritiker mundtot zu machen usw. Die Symptome betroffener Patienten verschwinden aber nicht durch die Leugnung ihrer Krankheit. Wenn z.B. ein schizophren erkrankter Mensch unter Halluzinationen leidet, also immer wieder Stimmen hört, obwohl gar niemand im Raum ist, dann sucht sein Gehirn natürlich nach einer Erklärung für dieses irritierende Phänomen. Wenn er die Erklärung seines Arztes, dass er leider krank sei und mit seinem Gehirn etwas nicht stimmt, nicht akzeptieren kann - und das ist bei beginnenden schizophrenen Psychosen eher die Regel als die Ausnahme - sucht sein Verstand nach einer alternativen Erklärung. Er kommt dann z.B. zu der Überzeugung, dass in den Wänden seiner Wohnung winzige Mikrofone eingebaut sein müssen o.ä..; wir nennen das einen Erklärungswahn. So ein Erklärungswahn führt subjektiv zunächst einmal zu einer psychischen Entlastung des Betroffenen, weil er ihm erlaubt, die Leugnung seiner Krankheit aufrecht zu erhalten, allerdings um den Preis, dass so natürlich eine Behandlung dieser Krankheit kaum möglich ist.

Was folgt daraus für unser Thema „Corona und Psyche“? Ich denke, die Parallelen sind deutlich geworden: Auch hier führt eine Leugnung des Problems mit teilweise wahnhaft anmutenden Begründungen nicht zu seiner Lösung, sondern im Gegenteil zu einer potentiell gefährlichen Verschärfung. Was also tun? Damit kommen wir zu

Teil 2: Wie können wir am besten umgehen mit den geschilderten Stressbelastungen in direktem und indirektem Zusammenhang mit der Corona Pandemie, ohne dadurch einen psychischen Schaden davonzutragen? Was können wir aus dieser globalen Krise vielleicht lernen für die Zukunft nach Corona?

Können wir ihr so, bei aller Tragik, womöglich irgendwo noch etwas Positives abgewinnen? Können wir dabei profitieren von den Erfahrungen früherer Generationen mit schweren Epidemien? Und last, but not least: Inwieweit kann der Glaube hier eine Hilfe sein?
Auch wenn zunächst einmal wenig professionell klingt: Es geht nicht ohne ein gewisses Maß von Verdrängung. Verdrängung hat zugegebenermaßen in unserer Gesellschaft keinen besonders guten Ruf - Probleme muss man doch lösen, heißt es, man darf sie nicht einfach verdrängen, das macht alles nur noch schlimmer usw. Ja, da ist natürlich etwas dran. Wer Probleme mit dem Finanzamt immer wieder verdrängt, bekommt irgendwann ein richtig dickes Problem.
Nur, ganz ohne Verdrängung geht es manchmal auch nicht: Der Chirurg muss das Bild der verzweifelten Angehörigen aus seinem Kopf verdrängen, um das vor ihm liegende Unfallopfer bestmöglich operieren zu können. Und beim Essen würde wahrscheinlich kaum jemand einen Bissen herunter bringen, wenn wir das Wissen darüber, dass gleichzeitig woanders Menschen verhungern, nicht vorübergehend verdrängen könnten. Manchmal müssen wir verdrängen, um unser Gehirn nicht mit Reizen zu überfluten und daran krank zu werden.
Das gilt insbesondere dann, wenn wir wie bei der Corona-Pandemie mit einem Problem konfrontiert sind, das wir selbst gar nicht lösen können. Bei dem unsere Nerven auf eine Geduldsprobe gestellt werden, weil wir auf Hilfe von außen warten müssen - in dem Fall am ehesten durch einen wirksamen Impfstoff. Dann ist es in psychischer Hinsicht ökonomischer, das kurzfristig nicht lösbare Problem in unserem Kopf erst einmal nach hinten zu schieben und uns bis dahin auf unsere Aufgaben im Hier und Jetzt zu konzentrieren. Das ist etwas anderes als Leugnung. Gesunde Verdrängung heißt nicht, Probleme oder Gefahren nicht zu sehen, sondern mit dem verbleibenden Restrisiko leben zu können, wenn man das persönlich Mögliche und Zumutbare zu ihrer Bewältigung getan hat.
Möglich und zumutbar ist z.B. für jeden Autofahrer, auf Alkohol am Steuer zu verzichten, den Sicherheitsgurt anzulegen und sich an Geschwindigkeits-begrenzungen zu halten; wenn sich alle daran halten, wird das Unfallrisiko reduziert, der Straßenverkehr bleibt aber trotzdem gefährlich.

Und auch wenn wir dadurch allein das Coronavirus nicht besiegen können wird jedem von uns zu Recht die Einhaltung der AHA-Regel zugemutet: Abstand halten, Hygieneregeln beachten, Alltagsmaske tragen.
Wichtig erscheint mir dabei, dass mit der Aufforderung, Abstand zu halten, ausschließlich ein körperlicher Abstand gemeint ist. Der in diesem Zusammenhang anfangs gebrauchte Begriff „social distancing“ hat hier teilweise für Verwirrung gesorgt, insbesondere durch seine unglückliche deutsche Übersetzung als „soziale Distanz“. Genau das ist mit dem englischen Begriff nämlich nicht gemeint; in den meisten angloamerikanischen Veröffentlichungen wurde er deshalb mittlerweile ersetzt durch „physical distancing“.
Soziale Nähe bei körperlichem Abstand – darum geht es. Das eine schließt das andere nicht aus. Aber natürlich ist die Pflege sozialer Kontakte erschwert, wenn wir uns nicht in den Arm nehmen dürfen oder zur Begrüßung die Hände schütteln. Gegenseitige körperliche Berührung ist ein zentrales, entwicklungsgeschichtlich altes und emotional besonders bedeutsames menschliches Bedürfnis. Das wird allein schon durch die Sprache deutlich: Der Begriff „Berührung“ bezieht sich sowohl auf einen körperlichen Vorgang (ich werde von jemandem berührt) als auch auf ein starkes Gefühl (ich werde von etwas berührt). Von vielen, insbesondere alleinstehenden Patienten höre ich, dass menschliche Berührung das ist, was Ihnen in der gegenwärtigen Krise am meisten fehlt. Andere klagen darüber, dass ihnen der vergrößerte räumliche Abstand zu mir in der Sprechstunde und das beiderseitige Tragen einer Maske die sprachliche Verständigung stark erschwert. Hinzu kommt, dass bei jedem Gespräch neben jeder verbalen auch die nonverbale Kommunikation eine Rolle spielt, z.B. die Mimik; die kann aber beim Tragen einer Maske, welche große Teile des Gesichts bedeckt, nur stark eingeschränkt wahrgenommen werden.
Das Telefon ist dafür natürlich kein vollwertiger Ersatz; gleichwohl kann seine segensreiche Funktion gerade in der gegenwärtigen Krise kaum überschätzt werden. Moderne Weiterentwicklungen wie Smartphones, Tablets und soziale Netzwerke bieten uns heute zusätzliche und immer weiter perfektionierte Kommunikations-möglichkeiten, die in meiner Jugend noch Inhalt von Science-Fiction-Filmen waren. Heute haben meine Frau und ich riesige Freude daran, per Videotelefonie virtuell unsere Kinder und Enkel zu besuchen und umgekehrt. Unsere Enkel wachsen mit diesen digitalen Medien so selbstverständlich auf wie meine Generation mit der Schiefertafel; erst vergangene Woche hat mir einer meiner Enkel erklärt, wie ich eine bestimmte Funktion in WhatsApp richtig einstellen muss – der Junge ist 6 Jahre alt. Besonders in der aktuellen Krise, aber auch unabhängig davon, halte ich digitale Medien für eine wichtige Möglichkeit, der Vereinsamung speziell alleinstehender älterer Menschen gegenzusteuern. Viele von ihnen haben sich deren Nutzung bereits angeeignet; die Oma mit dem Tablet auf dem Schoß ist längst keine Rarität mehr. Andere brauchen dazu noch Ermutigung und Hilfestellung. Wenn Sie also noch ein Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern oder Großeltern suchen: Vielleicht wäre ein seniorengerechtes Tablet samt entsprechendem Einführungskurs eine Idee?

Bei vielen Berufstätigen sind die digitalen Medien längst zu einem zentralen Bestandteil ihres beruflichen Alltags geworden. Sie haben in der aktuellen Krise die Verlagerung vieler Tätigkeiten in das Homeoffice ermöglicht und dadurch maßgeblich zum Erhalt von Arbeitsplätzen beigetragen. Technisch hat das zumeist besser funktioniert als von vielen erwartet. Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung von Arbeitsprozessen in den letzten Monaten wahrscheinlich stärker vorangebracht als alle Appelle und politischen Programme der letzten Jahre. Die Computer-, Software- und Internetbranche gehört deshalb auch zu den klaren Gewinnern der Krise.
Die kritischen Aspekte der dadurch bedingten Veränderungen der Arbeitswelt für viele Betroffene liegen überwiegend im psychischen und sozialen Bereich: Videokonferenzen können den persönlichen Kontakt zu Kollegen und Vorgesetzten nur teilweise ersetzen; die für ein gutes Betriebsklima so wichtigen informellen Kontakte zwischen Tür und Angel, die gemeinsame Kaffeepause, das kleine Schwätzchen auf dem Flur - all das entfällt. Manchen Mitarbeitern war das ohnehin nie besonders wichtig; andere leiden erheblich darunter: Das sind vor allem die sensiblen, die im Großraumbüro durch ihre zurückhaltend-freundliche Art vielleicht sogar eine wichtige soziale Funktion im Team hatten, aber es nicht gewohnt sind, sich aktiv in den Vordergrund zu spielen.
Der zweite psychische Problembereich im Zusammenhang mit dem dramatischen Anstieg von Homeoffice-Lösungen bezieht sich für viele Berufstätige auf die Abgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben. Während sich einige über höhere Flexibilität und das Wegfallen vom täglichen Pendelverkehr freuen, haben andere mit der Einrichtung eines Arbeitsplatzes zu Hause sehr zu kämpfen. Insbesondere Familien mit kleinen Kindern, die während der Corona Pandemie nicht in die Kita oder Schule gehen, und das womöglich noch bei ohnehin beengten Wohnverhältnissen, stehen für vor besonderen Herausforderungen. Da ist ein „Lagerkoller“ schnell vorprogrammiert. Was kann man dagegen tun?
Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie hat zu dieser und ähnlichen Fragen eine, wie ich finde gut gemachte und hilfreiche Website ins Netz gestellt, mit vielen Informationen und konkreten Tipps: psychologische-coronahilfe.de. Natürlich ist jede Situation anders; ein paar der hier aufgelisteten Tipps haben aber eine generelle Gültigkeit:


 Halten Sie Ihre gewohnten Alltagsstrukturen aufrecht! Das A und O für alle Altersgruppen sind klare Tagesabläufe. Achten Sie also auf Ihren natürlichen Biorhythmus und behalten Sie Ihre gewohnten Aufsteh- und Zubettettgehzeiten bei. Wenn Sie Kinder haben, besprechen sie mit Ihnen regelmäßig die geplanten Tätigkeiten und Aufgaben für den Tag und die kommende Woche.
 Bleiben sie aktiv! Regelmäßige körperliche Bewegung ist immer noch eine der effizientesten Strategien, um körperlichen Stress und negative Gefühle abzubauen. Dazu müssen Sie nicht warten, bis Ihr Fitness-Studio wieder öffnet – ein strammer Spaziergang im Wald, eine Runde mit dem Rad oder ein bisschen Gymnastik auf dem Wohnzimmerteppich ist auch in Zeiten des Lockdown möglich.
 Wenn Ihr Leben sich nur noch in Ihren eigenen vier Wänden abspielt: Schaffen sich hier ein paar Veränderungen! Gönnen Sie sich ein neues Möbelstück, eine neue Dekoration, räumen Sie auf oder um, eröffnen Sie dem Auge neue Perspektiven! Wenn Sie schon gezwungen sind, viel Zeit zu Hause zu verbringen, machen Sie es sich hier zumindest so gemütlich wie möglich!
 Sehen Sie digitale Medien als Chance! Nutzen Sie soziale Medien wie Skype, WhatsApp etc. zur Aufrechterhaltung sozialer Kontakte.
 Wenn Sie Kinder haben, helfen Sie Ihnen bei einem zielgerichteten Umgang mit diesen Medien, insbesondere wenn es um deren schulische Nutzung geht. Begrenzen Sie einen bloßen Konsum von Fernsehen, Computerspielen und Playstation, beugen Sie Suchtentwicklungen vor. Seien Sie dabei selbst ein Vorbild im verantwortungsbewussten Umgang mit Suchtmitteln.
 Nutzen Sie die Zeit, um sich endlich mal mit den Dingen zu beschäftigen, zu denen sie bislang nie gekommen sind: das neue Buch lesen, die alten Fotos einsortieren, das verstaubte Musikinstrument aus dem Schrank holen, oder was sonst so als seit langem unerledigt auf Ihrer inneren To-do-Liste steht
 Lassen Sie sich von der Corona-Pandemie nicht psychisch überrollen! Lassen Sie sich nicht zum Opfer machen, sondern bleiben Sie aktiv und behalten das Heft selbst in der Hand! Anhaltende Vorsicht vor dem Virus: ja, Panik: nein!
Gerade dieser letzte Satz ist zugegebenermaßen leichter gesagt als getan. Die Fähigkeit von Menschen, mit psychischen Belastungen konstruktiv umzugehen, ist nun einmal nicht gleichmäßig verteilt. Man bezeichnet diese mehr oder weniger ausgeprägte psychische Widerstandskraft heute als Resilienz; wie ich dem Programm der evangelischen Erwachsenenbildung entnommen habe, war das vor kurzem das Thema eines eigenen Seminars. Menschen mit einer stark ausgeprägten Resilienz werden sich auch im Umgang mit der Corona-Pandemie psychisch leichter tun. Wie aber sollten Menschen mit dem Thema Corona umgehen, die vielleicht schon von Natur aus oder aufgrund ungünstiger Lebenserfahrungen eher ängstlich strukturiert sind? Die sich schwer tun damit, ihre ängstliche gedankliche Fixierung auf dieses Thema zu unterbrechen oder zumindest zeitweilig in den Hintergrund zu rücken? Denen empfehle ich, sich ihre Ängste zuzugestehen, aber nicht noch unnötig Öl ins Feuer zu schütten: Corona-Angst wird nicht besser durch das tägliche Update der aktuellen Infektionszahlen. Viele Patienten berichten mir, dass sie Zeitungsberichte oder Fernsehsendungen zum Thema Corona schon gar nicht mehr anschauen, und mit dieser Entscheidung haben sie natürlich recht: Wenn ich einem Patienten wegen einer schweren Angststörung ein Medikament verordne, empfehle ich ihm in der Regel auch, den Beipackzettel erst gar nicht zu lesen, weil es ihm sonst erst einmal noch schlechter gehen und er dann das Medikament wahrscheinlich gar nicht mehr nehmen würde.

In Ergänzung des Angebotes der niedergelassenen Ärzte hat die psychiatrische Universitätsklinik Tübingen zur telefonischen Beratung von Menschen mit Corona-Angst seit April 2020 eine Notfall-Hotline eingerichtet, erreichbar montags bis freitags von 10-12 Uhr, dienstags, mittwochs und donnerstags auch von 14-16 Uhr (07071 29-62500). Falls sich die Sorgen und Ängste von Anrufern nicht im Rahmen eines Telefonats lösen lassen und eine ambulante Therapie bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten kurzfristig nicht zur Verfügung steht, kann dort evtl. auch eine telemedizinische psychotherapeutische Akutbehandlung per Telefon- oder Videosprechstunde vereinbart werden. Bei besonders stark ausgeprägten Ängsten kann ergänzend auch die Verordnung eines angstlösenden Medikaments angezeigt sein.
Bei alledem, bei aller Fixierung auf das Coronavirus und aller Angst davor, sollten wir eines jedoch nicht vergessen: Auch wenn es uns manchmal so vorkommt - die aktuelle Corona-Pandemie ist beileibe nicht die erste lebensgefährliche Infektionskrankheit mit weltweite Ausbreitung, und sie wird mit Sicherheit auch nicht die letzte bleiben. Corona hat weltweit bislang fast 2,6 Millionen Todesopfer gefordert; das ist natürlich erschreckend, zumal viele von ihnen wahrscheinlich durch Vorsichtsmaßnahmen vermeidbar gewesen wären. Aber schon lange vor Covid-19 haben immer wieder weltumspannende Krankheitsausbrüche die Menschheit erschüttert. Ein paar Zahlen zum Vergleich:


 HIV-Infektionen haben bislang 32 Millionen Menschen das Leben gekostet, von denen weit weniger geredet wird - ob das darin liegt, dass er inzwischen überwiegend Entwicklungsländer betroffen sind, wo uns die Opfer nicht so nahe gehen?
 Die sogenannte „Spanische Grippe“ durch ein besonders aggressives Influenzavirus war in den Jahren 1918-1920 für ca. 50 Millionen Todesfälle verantwortlich.
 Noch katastrophaler hat im späten Mittelalter die Pest gewütet, der „schwarze Tod“, verursacht durch ein von Ratten und Flöhen übertragenes Bakterium: geschätzt 125 Millionen Tote. Das entsprach in Europa ca. einem Drittel der damaligen Bevölkerung; ganze Regionen wurden komplett entvölkert.


Wir sollten uns auch nicht einbilden, dass unsere bisher angewandten Strategien zur Eindämmung der Corona-Pandemie - von der Hoffnung auf einen Impfstoff einmal abgesehen – so viel fortschrittlicher wären als die früherer Generationen: Abstand halten von Erkrankten, eine Maske vor dem Gesicht tragen, regelmäßig die Hände waschen - das waren bereits die Empfehlungen der Pestärzte im 13.-15. Jahrhundert. Der italienische Dichter Boccacio hat die Rahmenhandlung seiner Novellensammlung „Decamerone“ um 1350 angesiedelt in einem Landhaus außerhalb von Florenz, in das sich eine Gruppe junger Menschen vor der in der Stadt wütenden Pest geflüchtet hat - heute würden wir sagen, „sie haben sich in Quarantäne begeben“.

Quarantäne – auch das ist keine Erfindung unserer Zeit: Im Venedig des 15. Jahrhunderts mussten einlaufende Schiffe zur Vermeidung einer Einschleppung von Seuchen zunächst vierzig Tage (ital.: quaranta giorni) vor der Stadt vor Anker gehen, bevor die Seeleute an Land gehen durften - sie unterlagen einer behördlich verordneten „quarantena“.
Angst vor einer Ansteckung war zur Zeit der Pest allgegenwärtig. Von Gesundheitsbehörden in Venedig wird berichtet, dass sie bemüht gewesen seien, ihr durch einen ruhigen und einfühlsamen Umgang mit der verängstigten Bevölkerung entgegenzuwirken, weil schon die Angst an sich als eine gesundheitsgefährdende Gefahr angesehen wurde - ein erstaunlich moderner psychosomatischer Ansatz!
Aber auch von Problemen der Behörden mit unverantwortlichem Verhalten wird berichtet, vergleichbar heutigen „Corona-Partys“: Als Gesundheitsinspektoren auf dem Höhepunkt der Pestepidemie in Florenz eine Schar junger Leute bei einer fröhlichen Party antrafen, hätten sie von einem nahen Friedhof den Leichnam einer verstorbenen jungen Frau geholt und unter die Feiernden geworfen mit den Worten: „Hier - sie will auch mittanzen!“
Und nicht zuletzt kursieren auch Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit Epidemien nicht erst seit Corona: Als die Spanische Grippe 1918 die USA erreichte, die sich damals im Krieg mit Deutschland befanden, hätten viele Amerikaner beim Anblick einer Packung Aspirin der Deutschen Firma Bayer Panik bekommen: Handelte es sich wirklich nur um ein Medikament, oder hatten die Deutschen darin mit Absicht einen Krankheitserreger verborgen? Oder noch schlimmer: Hatten deutsche U-Boote still und heimlich die todbringenden Erreger an die Küsten Amerikas geschmuggelt? Zumindest ein Stück weit kann man diese Ängste nachvollziehen, wenn man weiß, dass die Deutschen 1915 als erste Kriegsführende Nation Giftgas eingesetzt haben. So wurde die Spanische Grippe zunächst auch als „deutsches Gift“ bezeichnet. Fußnote: Donald Trump besteht bei Corona heute noch auf der Bezeichnung „China Virus“
Eine historisch besonders verhängnisvolle Konsequenz von irrationalen Schuldzuweisungen war zu Zeiten der großen Pest das Gerücht, sie sei von den Juden verursacht worden, und zwar durch heimliche Vergiftung der Brunnen. Das führte an vielen Orten zu Gewalttaten an jüdischen Mitbürgern. Der Massenmord an Juden war keine Erfindung der Nazis – die haben ihn Jahrhunderte später nur industriell perfektioniert. Umso schlimmer, dass auch auf heutigen Veranstaltungen von Corona-Kritikern zunehmend wieder antisemitische Stimmen zu hören sind.
Ich fand es auch irritierend, in einem Pressefoto einer derartigen Veranstaltung neben Reichskriegsflaggen und anderen rechtsradikalen Insignien Kruzifixe zu sehen. Es mag ja glaubensmäßig vertretbar sein, in der Corona-Pandemie den Beginn der Endzeit zu sehen; schon in der Vergangenheit fanden zu Zeiten schwerer Seuchen apokalyptische Visionen regelmäßig besonderen Zuspruch. Nicht vertretbar ist es aber, daraus ein Widerstandsrecht gegen angebliche staatliche Willkür abzuleiten. Die Befreiung von der behördlich verordneten Pflicht, zum Schutz unserer Mitmenschen eine Alltagsmaske zu tragen, ist nicht die Freiheit, die uns Christus versprochen hat. „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Matthäus 22.21)
Allerdings erzeugt die Berichterstattung in den Medien manchmal einen einseitigen Eindruck: Auch wenn auf Demonstrationszügen von Coronakritikern getönt wird „Wir sind das Volk!“, belegen Meinungsumfragen, dass eine Mehrzahl der Bevölkerung die staatlich verordneten Einschränkungen im Prinzip befürwortet Das in meiner eigenen Kirchengemeinde umgesetzte Hygienekonzept wird von allen Gottesdienstbesuchern klaglos und diszipliniert eingehalten - nur so ist das Abhalten von Gottesdiensten derzeit noch verantwortbar. Und Gottesdienste sind wichtig: Psychologische Untersuchungen belegen, dass Menschen, die in einer Glaubensgemeinschaft verwurzelt sind, besser mit Krisen zurecht kommen; Glauben kann also ein wichtiger resilienzfördernder Faktor sein.
Eine zentrale Glaubensfrage zu Zeiten von Krankheitsepidemien und anderen Katastrophen war dabei schon immer die Frage nach dem Sinn: Warum lässt Gott das zu? Eine alte und heute zumindest in dieser verkürzten Form mehrheitlich als überholt angesehene Antwort beruft sich auf das Alte Testament: Krankheiten und insbesondere Seuchen seien die Strafe Gottes für die Sünden der Menschen.
Diese Haltung hat historisch zu positiven wie negativen Konsequenzen geführt: Ein meiner Überzeugung nach negatives Beispiel ist die von manchen evangelikalen Kreisen heute noch vertretene Überzeugung, AIDS sei die Strafe Gottes für die Sünde der Homosexualität: Das hat zu einer unter dem Gebot der christlichen Nächstenliebe nicht zu rechtfertigenden Ausgrenzung von Menschen geführt - einmal ganz abgesehen von der lapidaren Tatsache, dass dem HI-Virus die sexuelle Orientierung seines Opfers völlig egal ist.
Auf der anderen Seite hat sich die christliche Kirche unbestreitbar auch große Verdienste erworben durch ihre Sorge für „arme Sünder“ - und dazu gehörten nach dem traditionellen christlichen Verständnis neben Straftätern eben auch die Opfer von Krankheiten und Seuchen. Mönche und Nonnen in den Klöstern waren im Mittelalter die ersten und oftmals auch die einzigen, die sich systematisch kranker und sozial benachteiligte Menschen angenommen haben. Der fortbestehende diakonische Auftrag der Kirche ist ein Erbe dieser Klostertradition.
Vor allem aber lädt der Glaube angesichts der Konfrontation mit Krankheit und Tod heute wie damals ein zu einer bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt es im Psalm 90. Aktuell setzen wir in der Corona-Pandemie große Hoffnungen auf den angekündigten Impfstoff, und ich teile diese Hoffnung. Aber um das einmal ganz flapsig zu sagen: Selbst wenn wir dann nicht mehr an Covid-19 sterben, werden wir ja nicht unsterblich - wir sterben nur ein bisschen später an etwas anderem.

Die Auseinandersetzung mit unserer Sterblichkeit bleibt uns dadurchalso nicht erspart. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ - die Bibel geht davon aus, dass diese Auseinandersetzung unumgänglich ist, und dass wir aus ihr etwas lernen können.
Was kann das sein? Ich will mir nicht anmaßen, diese Frage abschließend zu beantworten. Wahrscheinlich wird jeder von uns seine eigene Antwort darauf finden müssen. Ein paar Gedanken drängen sich mir im Zusammenhang mit der aktuellen Situation aber schon auf: Wir sollten nach Corona auf keinen Fall einfach aufatmen und so schnell wie möglich zur Tagesordnung zurückkehren.
Wir sollten uns vielmehr darauf besinnen, dass unser Leben nicht selbstverständlich ist, sondern ein wertvolles Geschenk - gerade weil unserer Lebenszeit begrenzt ist. Wir sollten im Gedächtnis behalten, was uns in dieser Krise Halt gegeben hat - das waren vor allem die Solidarität und das Engagement vieler Mitmenschen, die mit ihrem Beitrag zur Bewältigung der Krise an die Grenze ihrer eigenen Belastbarkeit gegangen sind, und oftmals auch darüber. Und dabei sollten wir unseren Worten auch Taten folgen lassen und Pflegekräften, Verkäuferinnen und LKW-Fahrern nicht nur mal vor laufender Kamera applaudieren, sondern diesen Berufsgruppen endlich auch dauerhaft die Wertschätzung entgegenbringen, die ihrem Beitrag zu unseren Sozialwesen entspricht - und dazu gehört nicht zuletzt eine deutlich bessere Bezahlung. Gesundheitsgefährdende ausbeuterische Arbeitsverhältnisse (Stichwort Leiharbeit in der fleischverarbeitenden Industrie!) gehören definitiv nicht dazu.
Vor allem aber es sollten wir uns noch viel, viel mehr bewusst werden, dass wir alle auf einem Planeten leben, auf dem Probleme nicht an Landesgrenzen halt machen. Wenn wir ökologisch nicht endlich zu einer weltweiten Zusammenarbeit finden, werden wir es durch die sich abzeichnende Klimaveränderung nach der Prognose von Fachleuten schon in wenigen Jahrzehnten mit einer globalen Krise zu tun haben, gegen die die aktuelle Coronakrise ein Kinderspiel war.
Natürlich ist nicht alles, was wünschenswert wäre auf dieser Welt, mit unseren Kräften auch machbar - manches aber schon. Und dafür, das Menschenmögliche und Zumutbare nicht zu tun, dafür darf es keine Entschuldigung geben. Persönlich stoße ich bei derartigen Gedanken immer wieder auf die bekannte Passage aus einer Predigt des amerikanischen Theologen Robert Niebuhr, und damit möchte ich schließen:
„Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine von dem Anderen zu unterscheiden.“